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26.02.2023

Sich schreiben - Weg zur Identität

Wer bin ich ? Wer will ich sein? Wie sehen mich die anderen?
Vorbilder sind wichtig. Für die sozio-kulturelle Entwicklung von Kindern, bei Erwachsenen für die Weiterentwicklung der eigenen Identität, insbesondere wenn wir mit einer neuen Situation konfrontiert sind und wir uns neu ausrichten wollen oder müssen. Die anderen sind immer auch ein Spiegel der eigenen Persönlichkeit und reagieren auf das eigene Verhalten. Nicht immer finden wir jedoch Vorbilder oder Rollenmodelle in unserem direkten Umfeld. Blicken wir also über den Tellerrand und wählen ein Vorbild aus dem Kultur- und Wissenschaftsbetrieb.

Ich habe mir in der Winterpause den Luxus gegönnt, mich mit fast vergessenen Büchern und vielen Tassen heißen Tees in meinem Lesesessel gemütlich einzurichten. Und aus einem neuen professionellen Blickwinkel Altbekanntes neu zu entdecken. Zwei Beispiele möchte ich herausgreifen, die mich elektrisiert haben: den Essayisten und Publizisten Nils Minkmar und den japanischen Kulturautor Haruki Murakami.

Als Prototyp des französischen Intellektuellen, der sich wie kein anderer eine eigene Marke zugelegt hat, gilt dem deutsch-französischen Essayisten Nils Minkmar der französische Autor, Publizist, Philosoph und Medienprofi Bernard-Henri Lévy, kurz BHL:

« (…) BHL ist das prominenteste Beispiel für die ausgeprägte Neigung in der französischen Gesellschaft, aus dem eigenen Leben einen Roman zu machen, in dem der Protagonist man selbst ist. Sein Leben, sich selbst zu schreiben und so die Autonomie des Intellektuellen zu realisieren. (..)
In Frankreich gibt es eine (…) Tradition: Die des engagierten, also urbanen und mondänen Intellektuellen, der seine Freiheit realisiert, indem er schreibt, sich selbst schreibt. Die großen Klassiker der französischen Literatur kannten keine berufliche oder juristische Sicherheit (Deutsche Intellektuelle kommen aus einer ganz anderen Tradition) und improvisierten ein privates Leben. Schreiben war eine Realisierung der Freiheit und ein Gegengift gegen die schleichende Verspießerung im 19. Jahrhundert. Und es ist bis heute eine Praktik zur Selbstbehauptung.Es ist aber nicht nur unter Schriftstellern, Philosophen oder Intellektuellen üblich, sondern letztlich in der gesamten französischen Gesellschaft. Wer als Figur des öffentlichen Lebens keine Bücher schreibt, den gibt es nicht. » (Nils Minkmar, Das geheime Frankreich, Fischer 2017 E-Book S. 90 ).

Dem Kult des « Sich schreibens » huldigt Haruki Murakami in seinem 1992 erschienen kleinen Roman Südlich der Grenze, westlich der Sonne, von Ursula Gräfe vor zehn Jahren aus dem Japanischen meisterhaft übersetzt. Es gelingt Murakami, das Seelenleben seines Protagonisten Hajime in einer Art Entwicklungsroman wie mit dem Seziermesser freizulegen und dabei die Effekte, die Menschen auf unser Leben haben und wir auf das anderer, mit äußerster Spannung auf die Leinwand unseres Selbst zu malen.

" Mein Geburtstag fiel auf den 4. Januar 1951, also in die erste Woche des ersten Monats zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufgrund dieses denkwürdigen Datums erhielt ich den Namen Hajime, was „Anfang“ bedeutet. Ansonsten war an meiner Herkunft nichts Bemerkenswertes.“ (E-Book S. 3)

So lakonisch das Buch beginnt setzt sich der Ton fort und dennoch knistert es hörbar zwischen den Figuren, die sich - getrieben von Begierde, Scham, Schuld und Zufälligkeit - einander annähern und im Universum des Seins auch wieder verlieren.

„Wenn ich dich ansehe, kommt es mir mitunter vor, als würde ich zu einem fernen Stern aufblicken, sagte ich, Dieser Stern ist sehr hell, aber er hat sein Licht schon vor Zehntausenden von Jahren ausgesandt. Vielleicht gibt es ihn schon gar nicht mehr. […] Du sitzt neben mir, sagte ich ‚Zumindest scheint es so. Aber vielleicht bist du es auch gar nicht, sondern nur dein Schatten. Und du bist in Wirklichkeit ganz woanders. Oder schon vor langer Zeit verschwunden. Ich weiß es nicht mehr. Strecke ich meine Hand aus, um mich zu vergewissern, verbirgst du dich hinter Wörtern wie „wahrscheinlich“ oder „eine Weile“. Wie lange soll das noch so gehen?“ (E-Book S. 124).
(Haruki Murakami, Südlich der Grenze, westlich der Sonne, deutsch 2013 DuMont)

Sich literarisch schreiben ist eine Form der Identitätsfindung, die so viel mehr und anders ist als die uns bekannte Dokumentation des Tagebuchs, des Briefs, der Kurzmitteilung, der Check- oder to-do-Listen, des Protokolls. Sie bringt uns zu uns selbst und gleichzeitig auch zu unseren Adressaten in Beruf und Privatleben.



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